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Massenentlassungen richtig anzeigen: Was ist der maßgebliche Betrieb?
Ein größerer Personalabbau erfordert eine Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit. Für Unternehmen, die an vielen Standorten operativ tätig sind, kann es eine Herausforderung sein, die richtige Agentur für Arbeit zu identifizieren. Dabei Fehler zu machen, ist teuer.
Bruchlandung in Erfurt
Der Insolvenzverwalter von Air Berlin war nicht amüsiert, als das Bundesarbeitsgericht (BAG) ihm am 13. Februar 2020 gleich in mehreren Urteilen attestierte, dass die wegen Aufgabe des gesamten Flugbetriebs gegenüber Piloten und Co-Piloten ausgesprochenen Kündigungen wegen fehlerhafter Massenentlassungsanzeigen unwirksam waren. Was war hier zuvor passiert?
Die Leitung und Führung des gesamten Cockpitpersonals der in Schieflage geratenen Fluggesellschaft war in Berlin ansässig. Sie war für die Durchsetzung, Kontrolle und Einhaltung der Betriebsregeln und Arbeitsanweisungen im Bereich Cockpit, die Rekrutierung und Neueinstellung sowie die Personalplanung des gesamten fliegenden Personals zuständig. An zehn deutschen Flughäfen unterhielt Air Berlin sogenannte „Stationen“ mit Crewräumen für Aufenthalt und Check-in des Cockpitpersonals. Diesen Stationen war Personal für die Bereiche Boden, Kabine und Cockpit zugeordnet. In jedem Arbeitsvertrag des fliegenden Personals war eine Station als „Homebase“ ausgewiesen. In einer kurzen E-Mail an die Agentur für Arbeit Berlin Nord skizzierte Air Berlin diese Struktur und bat um Mitteilung, bei welcher(n) Agentur(en) die Massenentlassungen angezeigt werden müssten. Ein Sachbearbeiter der Agentur antwortete, dass nach dem mitgeteilten Sachverhalt für den Bereich Cockpit von einem Betrieb mit Sitz in Berlin und damit von einer einheitlichen Anzeige bei der Agentur für Arbeit Berlin Nord auszugehen sei. Nachdem ein Interessenausgleich über die Stilllegung des Geschäftsbetriebs unterzeichnet worden war, erstattete Air Berlin eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit Berlin. Das führte zur Bruchlandung in Erfurt.
Bei Massenentlassungen kommt es auf den unionsrechtlichen Betriebsbegriff an
Am Sitz des Bundesarbeitsgerichts herrscht nämlich folgende Ansicht:
Der Massenentlassungsschutz nach §§ 17 und 18 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) knüpft an den „Betrieb“ an. Das gilt für die Ermittlung des im Einzelfall maßgeblichen Schwellenwertes anzeigepflichtiger Entlassungen ebenso wie für die Zuständigkeit der Agentur für Arbeit. Die Massenentlassungsanzeige ist bei der für den Betriebssitz örtlich zuständigen Agentur zu erstatten. Geht die Anzeige dort vor Zugang der Kündigung nicht ein, ist die Massenentlassungsanzeige fehlerhaft und jede auf sie bezogene Kündigung unwirksam. Das Gleiche gilt, sofern die Anzeige infolge der Verkennung des Betriebsbegriffs objektiv unrichtige "Muss-Angaben" enthält.
Die §§ 17 und 18 KSchG dienen der Umsetzung der Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie, MERL). Der Betriebsbegriff in §§ 17 und 18 KSchG ist deshalb derselbe wie in der unionsrechtlichen MERL. Er ist losgelöst vom nationalen Begriffsverständnis auszulegen. Die Betriebsbegriffe des KSchG oder des BetrVG sind in diesem Zusammenhang nicht maßgeblich. Die auf der Grundlage des unionsrechtlichen Betriebsbegriffs zu beantwortende Frage, ob der Arbeitgeber eine Massenentlassung beabsichtigt, ist von der nach nationalem Recht zu beantwortenden Frage, welche Arbeitnehmervertretung er dabei zu konsultieren hat, strikt zu trennen.
Eine einheitliche Leitung ist nicht entscheidend
Nach nationalem Recht, insbesondere Betriebsverfassungsrecht, ist entscheidendes Kriterium für einen Betrieb das Vorhandensein eines einheitlichen Leitungsapparates, durch den der Einsatz der Betriebmittel und des Personals gesteuert wird. Die einheitliche Leitung muss sich insbesondere auf die wesentlichen Funktionen des Arbeitgebers in personellen Angelegenheiten (Einstellungen, Versetzungen, Kündigungen etc.) und sozialen Angelegenheiten (betriebliche Ordnung, Arbeitszeiten, Urlaubsgrundsätze, Personaldaten, Gesundheitsschutz, betriebliche Entgeltsysteme etc.) erstrecken. Eine räumliche Einheit oder wenigstens Nähe kann zwar für einen einheitlichen Betrieb sprechen, ist aber keine notwendige Voraussetzung. Hiernach kann ein Betrieb mehrere – auch räumlich weit voneinander entfernte - Standorte umfassen, sofern sie zentral geleitet werden.
Im Gegensatz dazu legt der Europäische Gerichtshof (EuGH) den Begriff „Betrieb“ i.S.d. MERL sehr weit aus und stellt keine hohen Anforderungen an die Leitungsstruktur. Es muss sich um eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität handeln, die zur Erledigung einer oder mehrerer bestimmter Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt. Da die MERL vor allem die Auswirkungen von Massenentlassungen auf den lokalen oder regionalen Arbeitsmärkten betrifft, muss die Einheit nicht über rechtliche, wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie verfügen, um als „Betrieb“ qualifiziert werden zu können. Ein Betrieb i.S.d. MERL muss auch keine Leitung haben, die selbstständig Massenentlassungen vornehmen kann.
Nach diesen Grundsätzen hat das BAG die von Air Berlin an den Flughäfen eingerichteten Stationen als Betriebe i.S.d. MERL qualifiziert und die Mitarbeiter im Bereich Cockpit der jeweiligen Station („Homebase“) zugeordnet. Für jede Station hätte eine Massenentlassungsanzeige bei der für sie örtlich zuständigen Agentur für Arbeit eingereicht werden müssen und die betriebsbezogenen Angaben hätten sich auf die einzelne Station beziehen müssen.
Die hiergegen eingelegten Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen (Beschluss vom 5. Januar 2021).
Folgen für die Praxis
Die Rechtsprechung des BAG hat für Unternehmen, die eine Vielzahl von Standorten umfassen, eminente Bedetung. Bei der Vorbereitung und Durchführung einer standortübergreifenden Massenentlassung ist genau zu analysieren, welche Standorte als Betriebe i.S.d. MERL und der §§ 17 und 18 KSchG zu beurteilen sind.
- Handelsniederlassungen, Filialen, Außendienstbüros, Logistikstandorte, regionale Servicecenter etc. können auch dann eigenständige Betriebe i.d.S. sein, wenn sie unter einheitlicher (Personal-)Leitung stehen.
- Auf die betriebsverfassungsrechtliche Betriebsstruktur kommt es nicht an.
- Auch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen nach § 3 BetrVG über besondere Arbeitnehmervertretungsstrukturen (z.B. die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats oder Spartenbetriebsräte) sind irrelevant, denn der unionsrechtliche Betriebsbegriff steht nicht zur Disposition der Tarifparteien und der Betriebspartner.
- Der Schwellenwert für eine Anzeigepflicht ist für den einzelnen Betrieb zu ermitteln. Maßgeblich sind die Zahl der dort regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer und die Zahl der beabsichtigten Entlassungen innerhalb von 30 Kalendertagen. Für kleine Betriebe mit bis zu 20 Arbeitnehmern besteht keine Anzeigepflicht.
- Für jeden Betrieb ist eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit, in deren Bezirk sich der Betrieb befindet, einzureichen. Wenn sich mehrere Betriebe im selben Bezirk befinden, ist für jeden Betrieb eine Anzeige einzureichen, denn die „Muss-Angaben“ sind betriebsbezogen zu machen.
- Eine rügelose Eingangsbestätigung einer örtlich nicht zuständigen Agentur für Arbeit heilt den Mangel der Massenentlassungsanzeige ebensowenig wie eine unzutreffende Auskunft. Die Arbeitsgerichte überprüfen eigenständig, ob eine Anzeige alle Wirksamkeitserfordernisse erfüllt; sie sind an Verlautbarungen der Arbeitsverwaltung nicht gebunden.
- Im Zweifelsfällen empfiehlt es sich, Anzeigen bei allen in Betracht kommenden Agenturen für Arbeit parallel einzureichen.
Fazit
Die Erarbeitung ordnungsgemäßer Massenentlassungsanzeigen ist keine Formsache, sondern gefahrgeneigte Arbeit. Eine genaue Analyse der Betriebsstruktur ist unerlässlich.