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8 Fragen und Antworten zum neuen Leitentscheidungsverfahren beim BGH
Ein neues Leitentscheidungsverfahren vor dem Bundesgerichtshof (BGH) soll die Instanzgerichte vor allem in Massenverfahren entlasten. Am 31. Oktober 2024 trat das neue „Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof“ in Kraft. Noch am selben Tag bestimmte der BGH ein Verfahren im sogenannten „Scraping-Komplex“ zum Leitentscheidungsverfahren. Was ändert sich durch das neue Gesetz? Und was darf man sich von einem Leitentscheidungsverfahren versprechen?
Was ist eine Leitentscheidung im Sinne des neuen Gesetzes?
Das neue Instrument ermöglicht dem BGH, Leitentscheidungen per Beschluss zu fällen, die den Instanzgerichten als Orientierungshilfe dienen können. Das Leitentscheidungsverfahren kommt dann in Betracht, wenn es sich um eine Masse an Zivilklagen mit deckungsgleichen Inhalten handelt. Der BGH kann eine solche Leitentscheidung selbst dann treffen kann, wenn das eigentliche Revisionsverfahren etwa durch einen Vergleich von den Parteien vorzeitig beendet wurde. Die Parteien können die Streitigkeit, wenn diese einmal beim BGH angekommen ist, – zumindest abstrakt – nicht mehr dessen Einschätzung entziehen.
Was sind die Voraussetzungen einer Leitentscheidung?
Die Voraussetzungen, unter denen der BGH eine solche Leitentscheidung fällen kann, sind im Gesetz zwar umrissen. Sie lassen aber Interpretationsspielraum. Nach dem neuen § 552b ZPO muss eine Revision Rechtsfragen aufwerfen „deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung“ ist, um eine Leitentscheidung zu rechtfertigen.
Liegen die Voraussetzungen vor, kann der BGH ein solches Revisionsverfahren durch Beschluss zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen. In diesem Beschluss stellt der BGH den Sachverhalt und die zu klärenden Rechtsfragen dar.
Endet ein Leitentscheidungsverfahren ohne ein mit inhaltlicher Begründung versehenes Urteil, trifft der BGH über die relevanten Rechtsfragen gemäß dem neuen § 565 ZPO eine begründete Leitentscheidung.
Hat der BGH das nicht ohnehin schon gemacht?
In der Tat: Erfahrungsgemäß äußert sich der BGH zu einer Sache, wenn ein Senat das Bedürfnis dazu verspürt. Die Instanzgerichte halten sich dann üblicherweise auch an die vorgegebene Richtung. Dies war allerdings auch in der Vergangenheit – ohne die Möglichkeit von Leitentscheidungen – der Fall.
Der BGH hat bereits vor Einführung des Leitentscheidungsverfahrens in Einzelfällen vergleichbare Beschlüsse veröffentlicht. Ein Beispiel hierfür ist der Hinweisbeschluss aus Februar 2019 (Az.: VIII ZR 225/17), in dem der BGH wesentliche rechtliche Bewertungen zum Dieselskandal abgab. Bemerkenswert daran ist nicht nur, dass der Senat seinen Hinweisbeschluss überhaupt veröffentlichte, sondern vor allem auch, dass dies erst geschah, nachdem der Kläger seine Revision unter Hinweis auf einen geschlossenen Vergleich bereits zurückgenommen hatte.
Wird es durch das Leitentscheidungsverfahren vielleicht sogar mehr Klagen geben?
Ganz ausgeschlossen ist dies nicht. Zwar kann bei Einzelfragen mit einem Leitentscheidungsverfahren zu einem früheren Zeitpunkt Rechtssicherheit herrschen, als wenn ein Revisionsurteil abgewartet werden muss. In bisherigen Masseverfahren kristallisierte sich jeweils schnell heraus, welche Tendenz einzelne Gerichte einnehmen. Häufig war der Gerichtsstand der entscheidende Faktor für die Erfolgschancen einer Klage. Eine möglichst frühere Vereinheitlichung der bundesweiten Rechtsprechung ist demgegenüber natürlich zu begrüßen. Sie führt aber höchstens zu einer Änderung des Inhalts der Urteile – nicht zu einer Entlastung der Gerichte.
Zu einer Entlastung der Gerichte durch eine Verlangsamung der Klageeinreichungen kann eine Leitentscheidung lediglich dann führen, wenn sie den Klagen schlechte Erfolgsaussichten ausspricht. Lässt die Leitentscheidung die Klage erfolgsversprechend wirken, wird dies regelmäßig sogar ganz im Gegenteil für mehr Klagen sorgen. So gab der genannte Hinweisbeschluss des BGH im Dieselskandal der Klägerseite neuen Aufwind, da den Klagen pressewirksam gute Erfolgsaussichten attestiert wurden.
Wie beeinflussen die Parteien Massenverfahren?
Klägerkanzleien in Masseverfahren führen diese Prozesse strategisch und suchen regelmäßig in großem Stil nach potenziellen Klägerinnen und Klägern. Aggressive Werbekampagnen zwischen Suchmaschinenoptimierung und Plakaten auf Autobahnraststätten sollen die nötige Masse an Klägern zusammentrommeln. Denn nur in der Masse liegt bei diesen Klagen für die darauf spezialisierten Kanzleien der Profit. Dabei geht es auch nicht immer um die Erfolgsaussichten. Auch mit der Summe an erzielten Vergleichen werden mögliche Kläger gelockt, ihrerseits durch eine Klage schnell an Geld zu gelangen.
Auch die Beklagten führen die Masseklagen sehr strategisch. Je nach Einschätzung der Erfolgsaussichten besteht oft wenig Interesse, eine höchstrichterliche Entscheidung zu riskieren. Eine solche Entscheidung könnte für die Beklagten im Falle des Unterliegens weitreichende Folgen für ähnliche Verfahren haben. Stattdessen wird deshalb gerne durch hohe Vergleichsangebote die Schaffung von Präzedenzfällen möglichst hinausgezögert. Davon profitieren auch die Klägerkanzleien. Die hohen Vergleiche ziehen ihrerseits neue Kläger an.
Bevor ein Verfahren beim BGH landet, hat der BGH keine Möglichkeit, eine Leitentscheidung zu fällen. Wie also auch in der Vergangenheit, wird die Möglichkeit des BGH, Stellung zu beziehen, davon abhängen, ob die Kläger hartnäckig genug eine Revision – oder eben bald Leitentscheidung – verfolgen.
Kann die Neuregelung die Gerichte entlasten?
Ob Leitentscheidungen die Instanzgerichte wirklich entlasten werden, ist zweifelhaft. Dies hat eine Vielzahl von Gründen. Die neue Regelung schafft zwar theoretisch eine Möglichkeit der Orientierung. Sie zwingt jedoch weder den BGH dazu, eine Leitentscheidung zu erlassen, noch bindet sie die Instanzgerichte in ihrer Entscheidungspraxis. Insofern ist es fraglich, ob die Regelung bis zum Ende gedacht war.
Wie der gewünschte Effekt „Entlastung der Justiz“ durch eine Leitentscheidung eintreten soll, ist nicht klar ersichtlich. Dennoch bleibt spannend, wie der BGH die neue Möglichkeit künftig nutzen wird. Daneben bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber weitere Maßnahmen zur effektiven Bewältigung von Masseverfahren in Betracht zieht, um die Justiz langfristig zu entlasten.
Die Möglichkeit der Aussetzung von Parallelverfahren bei Instanzgerichten bis zur Leitentscheidung könnte Instanzgerichten zwischenzeitlich Erleichterung verschaffen. Die ausgesetzten Verfahren müssen allerdings auch alle wieder aufgenommen und entschieden werden, sobald die Leitentscheidung vorliegt. Das führt im Zweifel nach der zwischenzeitlichen Erleichterung zu einer Häufung der Verfahren.
Wie könnte die Justiz denn stattdessen entlastet werden?
Massenverfahren bedeuten organisatorischen Aufwand für Gerichte. In der Sache selbst sind sie aber mit deutlich weniger Aufwand verbunden als komplexere Einzelklagen. Die teilweise altertümlich anmutende Ausstattung und Abläufe bei Gerichten erschweren diese Verwaltungsaufgabe zusätzlich. Die Gerichte selbst können die Klagen inhaltlich bewältigen, wenn sie entsprechend ausgestattet werden. Digitale Aktenführung und die Möglichkeit virtueller Gerichtstermine sind dabei nur zwei Punkte, die Gerichten die Arbeit erleichtern könnten. Die absolute Zahl der Klageeinreichungen vor staatlichen Gerichten in Deutschland sinkt seit Jahren – obwohl es einige Massenverfahren gab.
Es gibt bereits etablierte und wirkungsvolle Mechanismen zur Entlastung der Gerichte in Massenverfahren. Die Einführung der Musterfeststellungsklage anlässlich des Dieselskandals im Jahr 2018 hat beispielsweise dazu beigetragen, dass über 200.000 individuelle Klagen vermieden wurden. Diese Bündelung vieler gleichgelagerter Ansprüche ist auch in anderen Masseverfahren erfolgt. Die Anzahl der Kläger, die sich Musterfeststellungsklagen anschließen ist zwar bislang im Verhältnis zur absoluten Anzahl der Klagen ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein. Dies ist aber auch der Vermarktung von Einzelklagen vs. Musterfeststellungsklage geschuldet. Die Attraktivität der Musterfeststellungsklagen weiter auszubauen, wäre ein großer Schritt für die Entlastung der Instanzgerichte.
Was ist im ersten Leitentscheidungsverfahren bisher passiert?
Im ersten und bisher einzigen Leitentscheidungsverfahren zum sogenannten „Scraping-Komplex“ geht es um Schadensersatzansprüche von Betroffenen im Zusammenhang mit einem Datenschutzvorfall bei Facebook. Dabei haben Unbekannte die Suchfunktion bei Facebook ausgenutzt, um Profildaten von Facebook-Nutzern zu sammeln und mit ihren Telefonnummern zusammenzuführen. Die gefunden Informationen über die Personen haben sie im Internet öffentlich gemacht.
Der BGH stellte klar, dass eine rechtliche Äußerung bisher nicht möglich war, da frühere Revisionsverfahren kurzfristig zurückgenommen wurden. Nun möchte der BGH durch die Bestimmung zum Leitentscheidungsverfahren unabhängig vom Verfahrensverlauf zentrale Fragen klären. Hierzu zählt unter anderem, ob eine Standardvoreinstellung beim Import von Kontakten auf Facebook einen Verstoß gegen die DSGVO darstellt oder wie der Schaden der Betroffenen zu bemessen ist.
In der mündlichen Verhandlung im Leitentscheidungsverfahren vom 11. November 2024 gab der BGH durch eine vorläufige Einschätzung zu verstehen, dass schon allein der Verlust der Kontrolle über eigene Daten für einen Schadensersatzanspruch aus der DSGVO ausreichen kann.